Loslassen? Ich kann es nicht mehr hören!

  • 15. Dezember 2018

Dieser Text wurde im Magazin "Zwischen Erde und Himmel", Dezember 2018, veröffentlicht.

 

Ständig, aber wirklich ständig kommt dieses lästige Wort aus meinem Mund, wenn ich mit Klienten/innen arbeite: Loslassen! Lass dies los, lass jenes los ... und immer sehe ich Menschen vor mir, die vom Kopf her durchaus verstehen, was ich sage, doch die einfach keinen Weg sehen, wie sie das Loslassen bewerkstelligen können. „Aber wie denn?“ In ihrem Blick liegt manchmal die pure Verzweiflung. Wenn dieses blöde Loslassen so einfach wäre, dann könnte es jeder und zwar zackizacki, oder? Ich bin mittlerweile überzeugt, dass Loslassen eine der schwierigsten Übungen des menschlichen Daseins ist. Wenn ich etwas loslasse, mache ich einen Fehler? Was kommt danach? Und wie geht loslassen überhaupt?

Mir ist klar, dass ich immer auf die Menschen treffe, die mir mein Eigenes spiegeln. Auch meine Klienten. Also frage ich mich, was mir diese Häufung an Loslassen sagen könnte. Was kann ich loslassen? Hmm, da gäbe es Einiges, wenn ich ehrlich bin. Aber, nein, das kann ich dem anderen Menschen nicht zumuten. Also weitermachen und die alte, längst überholte Vorgehensweise beibehalten. Und bei einem anderen Thema müsste ich ganz offen sagen, was ich denke - ob der andere das gut findet und damit umgehen kann? Was, wenn nicht? Nee, lieber nichts sagen und meine Angst vor dem Verlassenwerden behalten. Und bei einem dritten Menschen erkenne ich sehr deutlich, dass ich nicht helfen kann. Loslassen? Habe ich ihn dann eventuell allein gelassen? Ich lasse niemanden allein, so sagt ein alter Glaubenssatz, egal, ob dieser das will oder nicht. Also auch hier behalte ich meine Einstellung bei. Und dann kommt meine Freundin um die Ecke, rät mir loszulassen und ich halte mir die Ohren zu!

Loslassen ist soooo anstrengend! Und richtig fies und gemein!

Ich merke, dass ich nicht loslassen kann! Meine Klamotten, die, weil zu groß, seit fünf Jahren im Schrank liegen - soll ich sie wirklich weggeben? Was, wenn ich nochmal hineinpasse irgendwann. Oder mein Auto. Elf Jahre bin ich damit gefahren, jetzt war technisch Ende im Gelände und ich musste es verkaufen. Ehrlich, mir standen die Tränen in den Augen. Meine Katze, die im Sommer meinte, sterben zu wollen. Sie entschied ganz einfach, dass sie nicht eingeschläfert werden wollte und ging. Das war eine, für mich, harte Lektion in punkto loslassen. Unser Sohn, der als Teenager mehr und mehr eigene Wege geht und nicht mehr alles mit Mama bequatscht und mir damit sehr deutlich macht, dass es Zeit ist, ihn loszulassen. Puh, schwierig, obwohl ich weiß, dass es richtig so ist. Und vor kurzem der Moment, in dem ich in einer Gruppe absolut nicht konform war und den Unmut der Dozenten auf mich zog. Loslassen, was jemand anders über mich denkt!

Also, ich kann das Wort Loslassen wirklich gar nicht mehr hören und verstehe meine Klienten immer besser. Dieses Wort macht etwas mit mir und wenn ich nachgrabe, dann fühle ich einen Ärger darüber, dass ich überhaupt loslassen muss. Wieso kann mein Leben nicht ohne Loslassen verlaufen? Alles behalten, ungefiltert und ohne nachzudenken. Mich nicht damit auseinandersetzen, was alt ist und nicht mehr zu mir passt, was vorbei ist und gehen darf. Eigentlich. Oh je, wenn ich das lese, merke ich ganz deutlich, dass ich nicht loslassen WILL. Aber STOPP! Schließlich schreibe ich diesen Artikel nicht ohne Grund. Denn es ist etwas geschehen, was alles verändert. Es war nicht ein einzelnes Erlebnis, sondern mehrere, die wie kleine Tröpfchen in eine große Schüssel plumpsten und sie mehr und mehr füllten. Und auf einmal, ja, da war sie voll, die Schüssel und es passte nichts mehr hinein.

In diesem Moment passierte es: Ich traf die Entscheidung loszulassen.

Was war geschehen? In meinem Umfeld gibt es drei liebe Menschen mit Krebserkrankungen. Bei allen sah es so aus, dass die ersten Behandlungen erfolgreich verlaufen waren. Doch dann, bei allen dreien kurz nacheinander, folgte die Diagnose weiterer Metastasen. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, denn alle hatten gute Prognosen und das Thema Krebs war zwar da, aber nicht mehr so präsent. Die Normalität hatte - mehr oder weniger - wieder Einzug gehalten. Und dann das. Erneute Angst, erneute Konfrontation mit der Frage, wie es weitergehen kann. Und wie lange. Mir wurde klar: Wenn ein Mensch von einer schweren Krankheit getroffen wird, dann kommt vielleicht der Gedanke „hätte ich nur“. Doch dann kann man die Zeit nicht mehr zurückdrehen. „Hätte ich nur dies oder jenes anders gemacht, hätte ich öfter auf meinen Bauch gehört, hätte ich“ ... aber diese Möglichkeit ist unwiederbringlich vorbei. In mir machte sich die Erkenntnis breit: Nie will ich in die Situation kommen „hätte ich doch nur“ zu sagen. Das bedeutet in der Konsequenz, JETZT zu tun oder zu lassen, was mir wichtig ist, nicht erst, wenn der Druck von außen zu groß geworden ist!

Das war das Eine. Und dann kam der Tropfen, der die Schüssel endlich bis zum Rand füllte: Ich drückte mich wieder mal um eine Loslass-Frage und meine Freundin sagte: „Du bist jetzt am Anfang deines Lebensherbstes und im Herbst zieht sich alles zurück um Innenschau zu halten.“ Wie bitte? Mit meinen 52 Jahren stehe ich am Anfang des Herbstes? Ich fühle mich aber wie im Hochsommer, ein Hochleistungsmotor treibt mich durchs Leben, Termine, Familie ... Seit fast dreißig Jahren geht es permanent rund, immer Neues, immer alles auf einmal, von Pause keine Spur. Voll normal, oder? Der „Anfang des Herbstes“ traf mich ganz tief im Mark, denn mit ihm kam die Erkenntnis, dass das Leben - auch für mich - endlich ist. Dass die Jugend lange vorbei und auch die Lebensmitte überschritten ist. Dass auch ich erkennen darf, wann es Zeit ist, die Jahreszeiten des Lebens zu akzeptieren, statt einfach weiterzumachen wie bisher. Seit diesem Moment kann ich mir leider nicht mehr vormachen, dass ich endlos Zeit habe und irgendwann später mal über das leidige Loslassen nachdenken kann. Denn dann ist es vielleicht zu spät. Auf einmal war mir klar, dass Loslassen ganz einfach ist:

Ich TREFFE die ENTSCHEIDUNG loszulassen.

Die Entscheidung ist der Zaubertrick, der alle „ja, aber“ aushebelt. Ein „hätte ich doch“ kommt nicht in Frage und ewig werde ich nicht leben, so viel ist sicher. Also bleibt, ganz logisch gedacht, nur die ENTSCHEIDUNG von nun an einen anderen Weg zu gehen. So gibt es seitdem zahlreiche Veränderungen in meinem Leben. Nicht alle sind einfach oder bequem, weder für mich noch für mein Umfeld, doch ein Zurück kann es nicht mehr geben. Meine Lebenszeit ist kostbar für mich, kostbarer als alles Geld dieser Welt. Meine Zeit so zu verbringen, dass ich am Ende meiner Tage sagen kann, „hey, du hattest ein erfülltes, selbst gelebtes Leben“. Qualitative Zeit, selbstbestimmte Zeit, eigenverantwortete Zeit. Nur ich selbst kann entscheiden, was mir wichtig ist und dafür will ich einen geraden Rücken machen und einstehen.

Und so fiel z.B. die Entscheidung, meinen Gemüsegarten loszulassen. Und mein altes Auto loszulassen. Unseren Sohn in Liebe und Vertrauen in seine Teenagerzeit ziehen zu lassen. Aufgaben und Tätigkeiten daraufhin zu betrachten, ob sie mir Freude machen und wenn nicht, sie loszulassen. Mir liebe Menschen in ihren persönlichen Entscheidungen zu belassen. Wie andere mich sehen, eventuell auch Urteile und Bewertungen, bei diesen Menschen zu belassen. Es wäre nicht richtig zu sagen, dass mir alles egal ist, sondern eher, dass ich das Andere im anderen zur Kenntnis nehme und schaue, ob ich dem zustimmen kann oder nicht. Und wenn das nicht der Fall ist, lasse ich es beim anderen und bleibe bei mir und damit frei. Und froh, denn loslassen, das weiß ich jetzt, bedeutet nicht alleine zu sein, sondern ganz bei mir und damit authentisch zu sein. Vielleicht sage ich meinen Klienten/innen von nun an nicht mehr: „Lass los“, sondern eher „Triff die Entscheidung, ob das Alte (Gedanke, Muster, Arbeit ...) weiterhin einen Platz in deinem Leben haben darf oder nicht. Wenn ja, dann nimm es aus vollem Herzen an. Wenn nein, dann triff eine Entscheidung. Und handle!

  • Copyright © Angela Steffens | Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.