Ich bin anders - Du auch?

  • 15. März 2018

Dieser Text wurde im Magazin "Zwischen Erde und Himmel", März 2018, veröffentlicht.

 

Anders sein scheint schrecklich zu sein. Jedenfalls kann man den Eindruck gewinnen, hört man den Menschen zu. Niemand möchte anders sein. Obwohl, manchmal klingt es auch paradox: Ich bin anders, aber nicht soooo anders. Anders light? Anders nur an bestimmten Tagen oder in bestimmten Situationen? Warum vermeiden wir es, anders zu sein oder wenn, dann möglichst unbemerkt? Und was, wenn das Anderssein doch irgendwann ans Tageslicht kommt? Stress pur!

Jeden Tag, wirklich jeden Tag höre ich von Menschen, dass sie nicht so sind, wie die Mutter, die Oma, der Vater oder der Chef sie gerne (gehabt) hätten. Ich höre Berichte darüber, dass dieser Mensch sich daher schon immer sehr gut angepasst hat. Ein liebes Kind war er/sie. Ein braves Kind, das seine Persönlichkeit unter zahlreichen Decken der Konformität versteckte aus Angst, die Zugehörigkeit zur Familie zu verlieren. Das geschieht vollkommen unbewusst in einem Alter, das hauptsächlich von Gefühlen und weniger von logischem Denken bestimmt ist.

In der Generation meiner Eltern (geboren in den 1940er Jahren) war es z.B. eine Schande mit der linken statt mit der rechten Hand zu essen oder zu schreiben. Stellen wir uns ein zweijähriges Kind vor, dass fröhlich seine linke Hand zum Spielen einsetzt, alles macht, alles kann. Und dann beginnt es, sein Essen mit der linken Hand zu löffeln... oh oh, da setzt es aber was aufs „böse Händchen“. Nein, „man“ benutzt die rechte Hand! Niemand fragt, ob das Kind damit zu etwas gezwungen wird, was seinen Anlagen widerspricht. Wichtiger ist das „Normalsein“, die Konformität in der Gruppe, aus der niemand ausgestoßen werden möchte. Sicher, die Eltern wollten das Kind vor dieser Erfahrung der Ausgrenzung schützen, sie meinten es gut, handelten im damals gültigen Regelwerk der Gesellschaft. Doch wir sollten uns heute die Frage stellen, ob diese Art Regeln immer noch angebracht sind. Ist unsere Gesellschaft, wenn auch in anderen Themen als der Frage nach Rechts- oder Linkshänder, so eng(stirnig), dass individuelle Anlagen, Fähigkeiten, Potentiale oder Neigungen versteckt oder aberzogen werden? Wenn ich den Menschen um mich zuhöre, komme ich um ein „Ja“ nicht herum. Und ich frage mich, wann wir endlich damit aufhören.

Anders damals - anders heute

Heute sind es nicht mehr die Rechts- oder Linkshänder, heute sind es Andersdenkende, Anderslebende, Andersfühlende. Warum „muss“ ein Kind heute Abitur haben, obwohl ihm diese Schulform nicht liegt? Weil es dann keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat? Aha, und wieso muss ein Bewerber auf eine Lehrstelle heutzutage ein Abi mit einer Note im 2er-Bereich vorweisen (mindestens)? Und warum kann er sich mit einem anderen Schulabschluss eine Lehrstelle gleich aus dem Sinn schlagen? Warum wird nicht auf die Qualitäten des Menschen geschaut, statt auf die Schulform und die Note auf dem Papier? Also quälen sich die jungen Menschen durch unser Schulsystem (von G8 schweige ich hier mal geflissentlich) und sind schon gefrustet, bevor sie ins Arbeitsleben starten. Zitat eines 15-jährigen Gymnasiasten am vorletzten Tag seines berufsbildenden Praktikums: „Ich gehe lieber acht Stunden arbeiten, als drei Stunden in die Schule.“ Das sitzt!

Und dann die nächste gesellschaftliche Norm: „Sieh zu, dass du einen sicheren Job bekommst.“ Ja, ich verstehe diesen Gedanken, auch ich bin Mutter und wünsche meinem Kind ein sicheres Ein- bzw. Auskommen. Wenn der Job finanzielle Sicherheit bringt UND GLEICHZEITIG meinem Kind Freude bereitet und ihm leicht von der Hand geht - gerne! Dann bin ich die letzte, die dagegen ist. Doch wenn es NUR um den existentiellen Gedanken geht und individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten außer acht gelassen werden, dann ist der Preis hoch. Viel zu hoch. Warum also lassen wir unsere gut gemeinten „Empfehlungen“ für unsere Kinder nicht in der Jackentasche stecken und gucken, welche Interessen und Begabungen sich zeigen? Weil das Kind dann anders ist? Anders als der Paul von Maria und Peter, der zur Uni geht und (Tschakka!) BWL studiert, obwohl er Studieren eigentlich zu trocken findet? Und unser Kind macht „nur“ eine kaufmännische Lehre oder, wow, das klingt schon besser, wenigstens ein duales betriebswirtschaftliches Studium? Und wie wird mein Kind angeguckt, wenn es wunderbare Dinge aus Holz herstellen kann, ohne Studium und einfach, weil es ihm Freude macht?

Aber schauen wir mal weiter: Da ist die 24-jährige Tochter, die sich die Haare mal grün, mal blau oder pink färbt. Weil es Spaß macht! Oder auch, weil der Farbtopf umgefallen ist. Ist es wirklich nötig, diese junge Frau als (Zitat) „verwahrloste, spätpubertäre Penner-Punkerin“ zu bezeichnen? Können die Ängste der Eltern, dass die Tochter möglicherweise aufgrund der Haarfarbe aus der Gesellschaft ausgegrenzt wird, die tiefe seelische Verletzung rechtfertigen, die diese Äußerung mit sich gebracht hat? Gleiches gilt für Menschen mit Tattoos, die oftmals schief angeguckt und ausgegrenzt werden. Statt mal zu fragen: „Was möchtest du mit diesem Tattoo sagen? Was bedeutet es für dich?“ Wie oft höre ich dann eine Geschichte, die zeigt, wie tief die Beweggründe sind, sich Farbe unter die Haut stechen zu lassen. Eben „Farbe zu bekennen“.

Aktuell in der gesellschaftlichen Diskussion ist die Frage nach der Gleichstellung homosexueller Paare. Hier hat sich zugegebenermaßen einiges in punkto Toleranz getan, wenn es auch noch Luft nach oben gibt. Ich bin der Ansicht, dass dieses Anderssein nicht bewertet werden darf. Wissen wir denn, was die Norm ist? Ist heterosexuell sein normal? Auch transsexuelle Menschen, also diejenigen, die sich in einem falschen Körper fühlen, entsprechen nicht den vorherrschenden gesellschaftlichen Klischees. Aus dem persönlichen Kontakt mit Betroffenen weiß ich, wie schmerzvoll der Weg ist, sich zu outen und welche verletzenden Sprüche sie sich anhören müssen. Anders sein als täglicher Spießrutenlauf.

Aber es gibt nicht nur diejenigen, die äußerlich anders sind. Auch andere Denk- oder Lebensweisen konfrontieren unsere Gesellschaft immer wieder mit der Frage ihres aktuellen Toleranzpegels. Zum Beispiel beim Thema vegane Ernährung oder wie lange ein Kind gestillt wird. Neulich berichtete mir eine Dame, dass die Kolleginnen und Kollegen sie barsch zurechtweisen („Wieso bist du denn zu DEM freundlich? Schön blöd!“), wenn sie wertschätzend mit einem Kunden umgeht. Euer Ernst?

Ja, es gibt sie Gott sei Dank auch, die Menschen, die Toleranz nicht nur verbal bekunden, sondern leben. Menschen, die Individualität nicht bewerten oder verurteilen, sondern neben der eigenen Individualität stehen lassen können. Das sind diejenigen, die andere ermutigen, sich zu trauen, ihrer Natur, ihren Vorlieben und Stärken Raum zu geben. Die dafür sorgen, dass der andere keine Energie dadurch verliert, dass er sich verstecken muss, sondern stattdessen die Kraft gewinnt sein Selbst fröhlich und unbeschwert zu zeigen und zu leben. Unsere Gesellschaft steht vor so vielen Herausforderungen - wir brauchen einen bunten Blumenstrauß an individuellen Persönlichkeiten mit tausendfachen Begabungen und Stärken, die sich gegenseitig ergänzen und unterstützen, damit wir eine gute Zukunft für uns alle erschaffen können.

„Sei wer du sein willst“, las ich die Tage auf einem Werbeplakat eines Karnevalskostümausstatters. Ich formuliere es mal um:
Sei wer du bist. Und das nicht nur an Karneval, sondern an 365 Tagen im Jahr.

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